Freitag, 4. Juli 2008 5. Teil Wandersegelflug 2008
(von JAN LYCZYWEK)
Die Kaltfront hat unverbrauchte, klare Luft gebracht. Noch während die letzte Feuchtigkeit abzieht, formt sie sich zu ersten Quellungen, die aber nach oben begrenzt bleiben; ein gutes Vorzeichen. Das Zwischenhoch baut zügig auf. Wir müssen uns beeilen. Gestern abend hatten wir abgerüstet; jetzt, beim ersten Aufrüsten während unserer Reise, stellen wir uns noch etwas ungeschickt an und sind um die Hilfe der Dingelianer dankbar. Beim Frühstück zeigt uns ihr Chef Hotte in großen Zügen die möglichen Abflugrouten auf der Karte. Zwei Alternativen gebe es für den Weiterflug nach Südwesten: entweder der Kurslinie folgend ins Sauerland, oder in einem weiten, nach Süden ausholenden Bogen zunächst Richtung Frankfurt, um vor den großen Lufträumen dann nach Westen abzubiegen. Schnell entscheiden wir uns für die erste Variante, die Direttissima scheint überzeugend, zudem führt sie in etwas erhöhtes, bergiges Gelände – für uns Alpenflieger einfach glaubwürdiger. Wer in Unterwössen fliegt, ist verwöhnt und weiß es zumeist nicht. An anderen Plätzen gehen die Uhren langsamer. Daran muß man sich als Unterwössener erst einmal gewöhnen und schafft es doch nie ganz. Wir machen uns fertig und warten schmunzelnd mit gesetzter Parkbremse. Eine halbe Stunde später sind die drei Flugzeuge vor uns gestartet, wir bekommen unser Windenseil.
Time: UTC
10:21 - 10:24 Toggle Overlay Open Es ist zwanzig nach Zwölf und längst lassen die Cumuli keinen Zweifel mehr daran, daß es ein Hammertag wird. Die Dieselwinde zieht uns erstaunlich kraftvoll an den Himmel und die Düsseldorfer winken uns nach.
IMG_6608_start_1211_high.jpg
10:25 - 10:29 Toggle Overlay Open In den ersten Heber dreht Stefan erst gar nicht ein, sondern sucht unbeeindruckt den Kern. Mit einem Meter wird er belohnt und nach kurzem Nachfassen werden fast zwei daraus. Euphorisch fliegen wir ab. Die Basis liegt bei 1300 Metern, doch das scheint uns mehr als ausreichend. Auch der frische Westwind, mit 25 Stundenkilometern immer noch kräftig, kommt uns heute kaum störend vor.
IMG_6615_dingel_1220_high.jpg
10:32 - 10:36 Toggle Overlay Open Den zweiten Bart müssen wir suchen. Zum Ausgleich führt er uns an eine lange tragende Linie heran. In diesem Wetter scheint alles möglich. Dass der eine oder andere Cumulus noch etwas größer ausfällt, als die Thermik darunter rechtfertigen würde, ist der Restfeuchte geschuldet und wir nehmen es nicht weiter schwer. Wir bleiben bei unserem Plan und können die ersten Höhenkuppen des Sauerlandes schon auf Kurs erahnen.
IMG_6626_platz_1232_high.jpg
11:19 - 11:25 Toggle Overlay Open „Rechts wegdrehen, rechts rechts rechts!“ Das weiße Huschen im linken Augenwinkel habe ich noch nicht ganz als Flugzeug erkannt, doch Stefan dreht auf meinen Ruf hin ohne zu zögern hart ab. Im selben Moment sieht auch er die Cessna. Nur Meter tiefer zieht sie unter unserer linken Tragfläche vorbei und brummt unbeirrt nach Norden. „Jan, lass uns bitte den Transponder anmachen.“ Stefan hat recht. Der Near Miss hat auch mich überzeugt. Der FIS-Lotse ist freundlich und souverän, weist uns statt der 7000 einen neuen Transpondercode zu und läßt uns fortan in Ruhe. Doch die Gewißheit, daß er uns im Zweifel warnen würde, läßt uns beruhigter fliegen.
IMG_6635_anf_1319_high.jpg
11:39 - 11:44 Toggle Overlay Open Der erste Waldkegel des Sauerlandes begrüßt uns mit anderthalb Steigmetern aus seiner kahlen Gipfellichtung. Einige Kilometer weiter steigen wir auf 1500 Meter, unsere größte Höhe bisher. Der Einstieg in das höhere Gelände scheint geglückt. Eine verwirrende Buckellandschaft breitet sich vor uns aus, gerundete Hügelkuppen unter dichtem Nadelwald, immer wieder von graubraunen Lichtungen durchbrochen. Dazwischen flache und doch eng gewundene Täler, in denen sich schiefergedeckte Dörfchen ducken. Kaum gerade Linien, alles scheint gerundet, gekrümmt in dieser Landschaft. Feldgrenzen, Waldränder, Straßen folgen den mäandernden Höhenlinien. Hier möchten wir nicht außenlanden müssen. Dominierende, längere Höhenzüge fehlen. Wir suchen nach einer tragenden Linie, finden sie nicht im Gelände und nicht in der Luft, stolpern von Kegel zu Kegel. Hier und da Kraterseen zwischen den Fichten, schon viel zu nah. Schließlich müssen wir an einem Luvhang im prallen Sonnenlicht in einem Nullschieber parken. Das höhere Geländeniveau, sechs-, siebenhundert Meter sind es hier, ist zur Falle geworden. Über niedrigem, ebenem Land stört der Wind nicht, das haben wir in der Heide gelernt. Doch hier in den Hügeln sorgt er für tückische Lees, kocht enge, verwirbelte, pulsierende Bärte. Ganz oben an den Wolken käme man wohl ungeschoren davon. Doch wir sind zu tief abgeglitten und das Sauerland gibt uns nicht mehr frei. Entnervt versuche ich den Befreiungsschlag, lasse die DG so steil ich kann um das Winglet wirbeln. Zweihundert Höhenmeter sind der Lohn, mit guten Steigwerten sogar, doch wieder zerplatzt der Bart, lange bevor wir souveräne Höhe haben.
IMG_6650_1339_high.jpg
11:45 - 13:21 Parken im Nullschieber, festbeißen in den wütenden, zerhackten Bärten, ein-, zweihundert Meter machen, wieder ist der Bart weg, wieder Vorflug ohne Linie und ohne die Ausgangshöhe, um das Problem durch einen langen Gleitflug lösen zu können. Suchen, stochern, stolpern, sich retten an einen Kahlschlag, einen Sonnenhang. Und wieder parken im Nullschieber, warten auf die nächste Blase, die anbeißt.
13:22 - 13:28 Toggle Overlay Open Anderthalb Stunden bleibt dieser Kampf zermürbend und ohne Aussicht auf prinzipielle Besserung. Weit im Süden helle Sonne über flachem Land, darüber erahnt man hohe, kräftige Cumuli – der Hammertag, unerreichbar.
IMG_6683_1522_high.jpg
13:29 - 13:39 Toggle Overlay Open Wir stehen kurz vor der Stadt Siegen und die Wolken voraus haben sich zu einer diffusgrauen, konturlosen Masse zusammengeballt. Weiter westlich kommt kaum noch Sonne durch; ein merkwürdiger Feuchtefleck mitten in der sonst so makellosen Rückseite. Immerhin gibt uns das eine Richtung vor: wenn überhaupt, dann kommen wir etwas südlich von der Kurslinie weiter. Quer zum Wind krabbeln wir aus dem Sauerland heraus, müde und geschlagen. Noch halb im diffusen Licht findet Stefan den ersten organisierten, runden Bart. Ruhig und konzentriert dreht er die anderthalb Meter aus, eine Erlösung nach all den zerrissenen Nullern. Es ist halb vier. Unser FIS-Controller meldet sich wieder und reicht uns weiter an seine Kollegin des benachbarten Sektors. Sofort verlieben wir uns in die Stimme. Es ist eine gelassene Bestimmtheit darin und ein feines Lächeln, das Humor und etwas Selbstironie verrät. Dass wir als Funkanfänger alles richtig machen, während kurz darauf ein routinierter Motorflieger einen wunderbar freundlichen Rüffel erhält, läßt uns endgültig zu glühenden Fans unserer Controllerin werden.
IMG_6697_siegen_1529_high.jpg
14:33 - 14:43 Toggle Overlay Open Eine weitere Stunde brauchen wir, bis wir das gute Wetter endgültig erreicht haben. Kurz vor dem Rheingraben bringt uns ein gänzlich unerwarteter Aufwind mit zwei Metern in der Sekunde zurück an die Basis in 1700 Metern. Wir jubeln. In meinem bequemen Rücksitz habe ich mir ein regelrechtes Büro eingerichtet und treibe allerlei Statistik, während Stefan fliegt. Die Bilanz bis hierher verschweige ich ihm lieber: 170 Kilometer Luftlinie in über vier Stunden. Doch es ist erst 16:30 Uhr und drei Stunden bleiben uns noch. Bei Koblenz queren wir den Rhein und haben das merkwürdige Gefühl, daß der Flug jetzt endlich beginnt.
IMG_6731_rhein_1633_high.jpg
14:54 - 15:04 Toggle Overlay Open Jenseits des Flusses wartet andere Landschaft und anderes Wetter. Reife Kornfelder, eingesprenkelt dazwischen Wälder und Ortschaften.
IMG_6765_1654_high.jpg
15:49 - 15:52 Toggle Overlay Open Ein tiefer Graben durchschneidet in Schleifen das Land, hin und wieder kann man schräg in eine der Biegungen blicken: die Mosel. Sie wird uns nach Frankreich führen. Die Cumuli hier sind groß und kräftig, mit messerscharfer, dunkler Basis. Der Tag hat seinen Zenith überschritten, doch wir sind nicht zu spät.
IMG_6786_1749_high.jpg
15:53 - 15:59 Das Flarm leuchtet auf, zum ersten Mal heute. Voraus kurbelt ein Segler und wir peilen den willkommenen Aufwind an. Sofort kommt die Verkehrsinformation über Funk: ein Motorsegler direkt voraus! Wir können beruhigen, Verkehr in Sicht. Mir wird langsam klar, was der entscheidende Vorteil des Transponders ist: ohne wird man bestenfalls in Ruhe gelassen, schlimmstenfalls aber ist man ein störender, umhergeisternder Fremdkörper, der im Zweifel einen ganzen Luftraumsektor blockiert und jedenfalls mit ständigen, für beide Seiten mühsamen Positionsmeldungen nachverfolgt werden muß. Mit Transponder aber ist man sichtbar, und rückt dadurch auf zum gleichwertigen Teilnehmer am Luftverkehr. Man redet mit den Lotsen auf Augenhöhe und nur noch dann, wenn es notwendig ist. Auf Kurs verlegt uns die militärische Kontrollzone Büchel den Weg. Doch es ist Freitag nachmittag, da dürfte die Bundeswehr schon im Wochenende sein. Stefan fragt nach: tatsächlich, wir können durch. Ein Stück weiter auf unserem Flugweg, ergänzt die Lotsin, läge allerdings die Kontrollzone Spangdahlem, und die sei aktiv. Die Frequenz gibt es gleich dazu und mit Bedauern wechseln wir. Stefan hat die größte Freude am Funken. In Spangdahlem spricht man Englisch mit amerikanischem Einschlag, gut verständlich jedoch und auch hier überaus freundlich, ja kollegial. Einige kleine Jets zischen umher, dennoch dürfen wir durch die Kontrollzone fliegen; der Transponder macht es möglich.
15:59 - 16:09 Toggle Overlay Open Eine markante Geländestufe direkt neben dem Trierer Flugplatz gibt noch einmal zwei Meter her; tausend Höhenmeter nehmen wir hier mit und freuen uns wie kleine Kinder, daß wir dabei einen Ventus auskurbeln. Punkt sechs Uhr abends gleiten wir an der alten Bischofsstadt vorbei. Selbst aus unserer Höhe wirkt der alte romanische Dom im Zentrum mächtig.
IMG_6792_trier_1759_high.jpg
16:20 - 16:30 Die Lufträume voraus, im Dreiländereck zwischen Frankreich, Luxemburg und Deutschland, sind dicht geschachtelt. Ich habe keinen Blick mehr für die Landschaft, vertiefe mich in Karten und Moving Map. Der PDA sagt uns, wo genau wir uns befinden, und warnt vor Lufträumen, denen wir zu nahe kommen. Die Papierkarte schafft Überblick und erlaubt, die großen Linien viel einfacher und schneller als am Bildschirm zu planen und das Gewirr der Luftraumgrenzen zu verstehen. Luxemburg scheint aus einer einzigen großen Kontrollzone zu bestehen. Der Mann am Funk spricht ein glasklares Englisch und ist distanziert-höflich, erwartet aber prompte Antworten. Jetzt kann Stefan zeigen, was er den Tag über geübt hat. Er macht es bestens und zur Belohnung warnt der Controller eine 737 der Sabena vor uns. „Traffic in sight, Sir“ sagt deren Kapitän und fliegt ein unnötiges, aber schönes Ausweichkringelchen um uns herum. Wir sind mächtig stolz. Wenn der Spätnachmittag in den frühen Abend übergeht, dann ändert sich das Licht, langsam und unmerklich, macht die Konturen weicher, läßt den Dunst wie von Ferne leuchten und bleicht das Himmelsblau ein wenig aus. Als ich von den Karten aufblicke, ist der Abend da. Selbst die Wolken sind flach geworden, manche zerfließen schon zu blättrigen Dunstschichten. Und voraus weites, weites Land, endlose Kornfelder, groß und eben und leer. Frankreich!
16:38 - 16:42 Toggle Overlay Open Wohin nun? Rechts voraus sorgt der Staatskonzern Électricité de France mit drei Atommeilern für einen gewaltigen, kugelig aufquellenden Cumulus. Es könnte der Bart des Tages sein; zu gern würden wir die Uranthermik ausprobieren. In dem Sperrgebiet, das die Terrorismus-Hysterie auch diesem Reaktor beschert hat, haben die praktisch denkenden Franzosen folgerichtig einen Segelflugsektor eingerichtet. Doch über die jeweiligen Ober- und Untergrenzen habe ich widersprüchliche Informationen und wir können das Kraftwerk nicht in zweifelsfreier Höhe anfliegen. Das ist uns zu heiß und schweren Herzen umfliegen wir die Dampffahnen über den Kühltürmen.
IMG_6804_elekt_1838_high.jpg
16:43 - 16:46 Luxemburg hat uns mittlerweile an Reims Information übergeben und auch hier ist das Englisch zwar nicht akzentfrei, entgegen allen Klischees aber erstaunlich gut. Doch der französische Controller geriert sich als Bürokrat: Warum wir keinen Flugplan hätten, fragt er tadelnd. „D-1284 is a glider.“ Der Ton wird eine Spur schärfer: das sei gleichgültig, dennoch benötigten wir einen Flugplan und obendrein sei es sowieso verboten, ohne Flugplan aus Deutschland nach Frankreich einzufliegen. Doch auch wir haben noch ein As im Ärmel: ich entschuldige mich auf französisch, das hätten wir nicht gewußt, und frage treuherzig, ob der fehlende Flugplan ein Problem darstelle? Reims, ebenfalls französisch: Nein, das sei selbstverständlich überhaupt kein Problem, „Bienvenue en France!“ und guten Weiterflug. Manche der Klischeevorstellungen über Frankreich scheinen doch zu stimmen und mit der Landessprache hat man es überall leichter.
16:46 - 16:55 Thionville heißt die erste Stadt in Frankreich. Dort gibt es einen Flugplatz und laut unserer Recherchen sogar einen Segelflugverein. Doch wir sind noch tausend Meter hoch. Über dem nächsten Ort kommen kurzlebige, schmutzigbraune Kondensen hoch. Dort fächert sich die Bahnlinie zu breiten Rangiergleisen auf. Zwischen tristen Arbeitersiedlungen und dicht gedrängten Reihenhäuschen wuchert im Tal eine langgestreckte Fabrikanlage, Stahl wird hier wohl hergestellt in einem wirren Konglomerat aus Hallen, Straßen, Abraumhalden und unzähligen Hütten und Schuppen. Einheitlich ist nur das trostlose Rostbraun, das selbst die Landschaft ringsum zu überziehen scheint. Tatsächlich trägt die Luft über dem Werk. In dem ausgedehnten, wabernden Aufwind finden wir keinen Kern. Wir sind angespannt, denn die Industriethermik ist unsere letzte Chance und allzu leicht verspielt man schwache Bärte durch zuviel Sucherei.
Industriethermik mit Fertigwölkchen Mitten in der graubraunen Ödnis der Fabrik bildet sich ein kleiner hellweißer Fleck. Einen Moment scheint das merkwürdige Gebilde am Boden zu kleben, während es wächst. Dann begreifen wir: das ist Dampf, der sich tausend Meter unter uns zu einem kleinen, runden Cumulus formt. Fast scheint es, als ließe man die fertige Wolke einfach nur frei. Wir positionieren uns direkt über ihr, während sie rasch aufsteigt und dabei zerfällt. Der erhoffte Schlag bleibt aus, aber noch bevor uns die faserigen Schwaden erreicht haben, setzt sanftes, gleichmäßiges Steigen ein. „Ca pompe?“ fragt Reims interessiert nach. Der Controller hat gesehen, daß unser Transpondersignal sich nicht mehr fortbewegt und jetzt will er wissen, ob es steigt bei uns. „Pumpt es?“ bedeutet seine Frage wörtlich übersetzt, eine treffende Umschreibung, die zu unserer Industriethermik besonders gut paßt. Der Mann ist offensichtlich selbst Segelflieger und freut sich, daß ich ihm von einem knappen Meter pro Sekunde berichten kann. Mit den besten Wünschen entläßt er uns von seiner Frequenz. Fünf Minuten sprudelt die Pumpe. Dann müssen wir erneut verlagern und finden etwas abseits einen Nullschieber, in dem wir parken können. Vielleicht tun uns die Stahlwerker den Gefallen, uns nocheinmal etwas Warmluft hochzupumpen? Tatsächlich, nach Kurzem bläst die Fabrik ein neues Wölkchen ab und hebt uns auf 1700 Meter.
17:05 - 17:15 Es ist kurz nach Sieben und voraus ist alles dunstig blau. Auf neuen Aufwind können wir nicht rechnen und die Flugplätze liegen weit verstreut in der dünn besiedelten Ebene. Was also tun? Rainer meldet sich per SMS aus Metz, nur wenig südlich von uns. Von dort zieht sich die Autoroute de l’Est fast genau nach Westen Richtung Paris. Wir beschließen, parallel zur Autobahn abzugleiten und dann in deren Nähe zu landen. Das Land ist flach und einige Kornfelder scheinen schon abgemäht. Trotzdem ist es ein mulmiges Gefühl, nach einem langen Flugtag so ins Ungewisse zu gleiten.
17:25 - 17:35 Wir sind beeindruckt von der Weite des Landes hier im Herzen Mitteleuropas. Eindrücklich wird aus unserer Perspektive erfahrbar, welche Bedeutung die Landwirtschaft für Frankreich hat – eine Facette, die dem Provence-Touristen entgeht. Gänzlich unerwartet treffen wir auf einen letzten Abendbart am Ortsrand des Städtchens Briey, dessen pittoreske Altstadt sich an die Ufer eines gewundenen Staubeckens schmiegt. Beim Sightseeing steigen wir noch ein letztes Mal um vierhundert Meter. Das verschafft uns neue Möglichkeiten: zwei Flugplätze sind jetzt in Reichweite. Deren ersten, Étain, dürften wir in 800 Metern über Grund erreichen, meint der Rechner. Beim Anflug auf den Heimatplatz freut man sich über solch üppige Sicherheiten. Auf Wandersegelflug jedoch wollen wir soviel Höhe nicht ungenutzt verschenken, der Platz scheidet deshalb aus. Der Anflug auf den zweiten Platz hingegen wird knapp. Wir trösten uns mit den großzügigen Außenlandemöglichkeiten ringsum und gleiten los. Unser Ziel ist Verdun. Der Ort ist 1916 zum Symbol geworden für grauenhafte Grabenkämpfe, für den Ersten Weltkrieg insgesamt als ’Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts’ und für das menschenverachtende Verbrechen Krieg schlechthin. Unwillkürlich halte ich Ausschau nach Spuren der Gräben und Festungsanlagen; natürlich vergeblich. Aus der Vogelperspektive wird der Irrsinn nur noch unbegreiflicher; vielleicht eine wertvollere Erkenntnis als alle militärhistorischen Details.
17:45 - 17:47 Toggle Overlay Open Dann nimmt der Endanflug wieder unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Ein niedriger, bewaldeter Höhenrücken legt sich uns quer in den Weg. Noch acht Kilometer bis zum Flugplatz. Solche Zahlenwerte in die großräumig strukturierte Landschaft hineinzudenken, ist ohne Anhaltspunkte schwierig. Wir haben noch vierhundert Meter über der Ebene und werden den Höhenzug wohl überfliegen müssen. Wieder merken wir uns den letzten landbaren Acker, seine Landerichtung und das Anflugverfahren. Dann gleiten wir über die Bäume. Wir halten beide angestrengt Ausschau nach dem Flugplatz, den wir jenseits des Waldrückens und südlich der Stadt Verdun vermuten. Tatsächlich, weit voraus zwischen verstreuten Gewerbebauten ein langer, heller Streifen, fast genau in Flugrichtung. Die Bahn? Der Rechner sagt eine Ankunftshöhe von knapp zweihundert Metern voraus; die Entfernung könnte dazu passen. Doch irgend etwas stimmt nicht. Die Bahnrichtung! 10/28 steht in meiner Flugplatzdatenbank, aber der weiße Strip liegt fast genau auf Südwestkurs. Viel Zeit bleibt uns nicht. Wo ist der Flugplatz? „Nehmen wir den da?“ fragt Stefan grinsend und deutet nach links unten. Zwischen den Bäumen, mittig auf dem Kamm des Höhenzuges, tut sich eine weite Lichtung auf, darin eine lange Asphaltbahn und einige Hallen. Verblüfft schaue ich auf die Entfernungsanzeige, die ich minutenlang vernachlässigt hatte. Die Distanz ist viel schneller zu Null geschrumpft, als ich erwartet hatte und die knappe Ankunftshöhe lag nicht an der verbleibenden Strecke, sondern schlicht an der Höhenlage des Platzes oben auf den Hügeln, gut hundert Meter über der weiten Ebene. Die Erleichterung überdeckt den Ärger über meinen navigatorischen Fauxpas, der mir allemal etwas unprofessionell scheint. Wie vorhergesagt sind wir genau zweihundert Meter über dem Platz und gehen in eine weite Landevolte. Im Funk antwortet niemand, also verkünden wir in Blindmeldungen unsere Absichten. Um zehn vor acht berührt die DG französischen Boden. Wir sind überwältigt vor Freude.
IMG_6825_verdun_1945_high.jpg
17:49 - 17:52 Toggle Overlay Open Der Provinzflugplatz scheint seinem Planer ein wenig zu groß geraten. Riesige, rostige Wellblechhallen verbreiten einen etwas morbiden Charme. Unmotiviert stehen einige zehn Meter einst weiß gestrichenen Eisengeländers am Rand des grotesk großen Vorfeldes. Das Gartentörchen in der Mitte des Zaunes bleibt gewiß seit Jahren offen. Dahinter reihen sich einige graue Militärbaracken. Eine davon jedoch ist frisch renoviert, davor Sonnenschirme auf einer kleinen, erhöhten Terasse. Der Chef und die Kellnerin des Restaurants begrüßen uns freundlich; Erstaunen oder gar neugieriges Interesse löst unsere Ankunft aber nicht aus. Allenfalls die Frage, ob wir die DG mitten auf dem Vorfeld stehen lassen und später auch dort abrüsten dürften, wird mit Verwunderung aufgenommen: selbstverständlich, warum nicht? Solchen Nebensächlichkeiten gegenüber ist man in Frankreich angenehm entspannt. Kurz darauf ist Rainer da. Das Flugplatzrestaurant hat drei Tage zuvor eröffnet, heute wird zum ersten Mal auch abends gekocht. Uns ist das Grund genug, die Ankunft in Frankreich gleich hier zu feiern. Die hübsche Kellnerin bemüht sich rührend um uns und darum, alles richtig zu machen. Zwischen Hauptgericht und Dessert verpacken wir die brave DG in ihrem Hänger, denn hier gibt es keinen Schlepp und von Westen ziehen Cirren herauf. Sie lassen die Sonne glutrot untergehen. Morgen wird uns die neue Front wohl einen Ruhetag bescheren. Doch darüber machen wir uns heute keine Gedanken. Hinter uns liegt einer der seltenen Flüge, in denen alles enthalten ist, was unseren Sport ausmacht.
IMG_6827_high.jpg